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Seit 1911 wird dieser Tag besonders gefeiert. Er erinnert an die bleibende Herausforderung, für Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu sorgen. Denn noch immer sind Frauen gegenüber Männern benachteiligt: Für die gleiche Arbeit verdienen sie oft weniger Geld (das nennt man den Gender Pay Gap); die Chancen auf eine gute berufliche Karriere sind für Frauen schlechter als die ihrer männlichen Kollegen; und noch immer wird unbezahlte Care-Arbeit, also die Pflege von Kindern und Angehörigen und die Hausarbeit mehrheitlich von Frauen übernommen. Sicherlich – die Verhältnisse sind heute nicht mehr so krass wie vor über einhundert Jahren. Aber die Ziele der Frauen, die Anfang des letzten Jahrhunderts für ihre Rechte aufgestanden sind, sind bis heute noch immer nicht vollständig erreicht.

Zu den mutigen Vorreiterinnen gehörte eine Frau namens Clara Zetkin. Sie setzte sich unter anderem dafür ein, dass alle Frauen der Welt an einem Tag im Jahr ihr Recht auf Gleichberechtigung einfordern sollten. Das geschah zum ersten Mal 1911. Aber schon 1908 demonstrierten Frauen in New York, die dort in Textilfabriken arbeiteten, am 8. März für das Wahlrecht, kürzere Arbeitszeiten, bessere Löhne und mehr Arbeitsschutz. 1910 beschlossen 100 delegierte Frauen aus 17 verschiedenen Ländern auf einer internationalen Konferenz die Einführung eines jährlichen internationalen Frauentags. Viele Demonstrantinnen hatten sich damals eine rote Nelke an das Revers gesteckt. Dazu inspirieren lassen hatten sie sich durch politische Widerstandskämpfer während der französischen Revolution: Auf dem Weg zur Hinrichtung mit der Guillotine trugen sie rote Nelken. Stolz sagte Clara Zetkin bei der Premiere 1911 passend dazu: „Dieser internationale Frauentag ist die wuchtigste Kundgebung für das Frauenwahlrecht gewesen, welche die Geschichte die Geschichte der Bewegung für die Emanzipation des weiblichen Geschlechts bis heute verzeichnen kann.“

1918 erreichte die Frauenbewegung in Deutschland einen wichtigen Meilenstein: Am 12.11.1918 erhielten die Frauen das aktive und passive Wahlrecht. Endlich konnten sie also wählen und gewählt werden. In der Schweiz mussten die Frauen bis 1971 auf dieses Grundrecht warten. Dass es im 1949 in Kraft getretenen deutschen Grundgesetz in Artikel 3, Absatz 2 heißt „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, war dennoch kein „Selbstgänger“. Der Hartnäckigkeit der „Mütter des Grundgesetzes“ Dr. Elisabeth Selbert, Frieda Nadig, Helene Weber und Helene Wessel haben wir es zu verdanken, dass diese fünf schlichten, aber inhaltsreichen Worte von Anfang an in unserer Verfassung stehen.

In vielen Ländern ist der 8. März heute ein Feiertag. In Deutschland zählt der Frauentag nur in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zu den gesetzlichen Feiertagen. Ein religiöser bzw. christlicher Feiertag ist der internationale Frauentag nicht. Clara Zetkin und viele ihrer Mitstreiterinnen hatten ihre Heimat nicht in den Kirchen, sondern in der Arbeiter/innenbewegung. Ehrlicherweise muss man zugeben, dass sich die christlichen Kirchen an vielen Stellen keine großen Verdienste um die Gleichberechtigung von Mann und Frau gemacht haben. Lange Zeit und an vielen Orten stützten und stützen Kirchen und christliche Gemeinden bis heute die Dominanz von Männern gegenüber Frauen. Zuerst fällt einem dabei vielleicht die Situation von Frauen in der römisch-katholischen Kirche ein. Dort sind Frauen bis heute von geistlichen Ämtern ausgeschlossen. Aber auch in den evangelischen Kirchen und Freikirchen ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau noch immer nicht Selbstverständlichkeit.

Manche Verfechter des Patriarchats berufen sich sogar auf die heiligen Schriften der christlichen Kirchen, auf die Bibel. Sie argumentieren mit Stellen, die davon sprechen, dass Frauen sich den Männern unterordnen und in den Gemeinden den Mund halten sollen. Dabei vergessen sie, dass diese Bibelstellen in ihrem historischen Zusammenhang zu verstehen sind. Die antike Welt war eine, in der die Männer das Sagen hatten. Frauen wie Kinder besaßen damals noch keine eigenen Persönlichkeitsrechte. Sie zählten zu den Besitztümern der Männer wie die Tiere und alle leblosen Gegenstände, die zu den Männer-Haushalten gehörten. Die völlige Gleichberechtigung der Frauen lag schlicht außerhalb des Vorstellungsvermögens der Zeitgenossen von Jesus und seiner Nachfolger. Bemerkenswert sind darum nicht die Stellen in der Bibel, die einfordern und unterstützen, was damals ohnehin überall galt. Viel bemerkenswerter sind diejenigen Passagen in der Bibel, die von der besonderen Bedeutung von Frauen in der Geschichte des Christentums erzählen. Ein Geschichtenerzähler hebt sich hier besonders hervor: Der Evangelist Lukas, der auch die Apostelgeschichte geschrieben hat. In beiden biblischen Büchern spielen Frauen herausragende Rollen. An dieser Stelle sei nur erwähnt, wer die ersten Zeugen für die Auferstehung von Jesus Christus gewesen sind: Das waren Frauen! Auch der erste Mensch, der auf dem europäischen Kontinent ein Anhänger Jesu wurde, war laut Lukas eine Frau. In seinem Ursprung war der christliche Glaube also alles andere als frauenfeindlich. Leider ist die Kirche lange Zeit und an vielen Orten auf der Welt hinter diese fortschrittliche Ursprungsidee zurückgefallen. Umso mehr sollten wir heute – Seite an Seite mit den Frauen, die am 8. März für ihre Gleichberechtigung kämpfen – dafür eintreten, dass das Geschlecht, die sexuelle Orientierung oder die Gender-Identität eines Menschen nicht darüber entscheiden, welche Chancen dieser Mensch in seinem Leben hat. Das nämlich ist die große Vision, die Jesus dem christlichen Glauben eingeimpft hat, so Paulus: „Es ist jetzt nicht mehr wichtig, ob ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen seid: In Jesus Christus seid ihr alle eins!“ (Galater 3, 28)

Gleichberechtigung ist darum nicht nur ein Frauen-Thema. Gleichberechtigung bedeutet, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben in der Schule, im Beruf und überhaupt in ihrem Leben. Das macht unsere Gesellschaft und unsere Welt für uns alle besser, gerechter und vielfältiger. Bunte Teams sind kreativer und lösen Probleme besser, weil unterschiedliche Ideen und Sichtweisen zum Tragen kommen. Eine Welt, in der alle Menschen gleich viel wert sind, ist auch eine glücklichere und freie Welt. Am 8. März sollten sich darum nicht nur die Frauen eine rote Nelke ans Revers stecken.

Ein Beitrag von Pastor Thorsten Graff, Leiter Konzernbereich Seelsorge-Theologie-Ethik in der Immanuel Albertinen Diakonie